Vertonter Nato-Doppelbeschluss

Karies im Goldmark's

Karies, Goldmark’s 25. Mai 2017

Vor dem Konzert im Stuttgarter Goldmark’s fand ich Karies gut, jetzt bin ich begeistert. Und mit der Meinung bin ich ich beim Auftritt nicht alleine.

Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, dass sich in Stuttgart in den letzten Jahren eine interessante Bandszene entwickelt hat. Nachdem ich 2013 im Mobilat mit den Nerven und Karies zwei prominente Vertreter gesehen hatte, verfolgte ich daraufhin aus der nordwürttembergischen Ferne die Entwicklung mit Interesse. Seltsamerweise habe ich es seitdem nicht mehr geschafft, eine der beiden Bands noch einmal live zu sehen. Deshalb hatte ich mir den 25. Mai auch mit Neonfarbe im Kalender angemalt, damit ich den Kariesauftritt garantiert nicht verpasse. Ausverkauft-Ängste wegen eines kurzfristig eröffneten Online-Vorverkaufs sind unbegründet: An der Abendkasse gibt es genügend Karten. Dass man den Eintrittspreis zwischen 10 und dreizehn Euro selbst bestimmen kann, ist irritierend. Mit so neumodischem Quatsch bin ich ganz schnell überfordert.

Karies im Goldmark's mit Heimspielgefühl

Karies im Goldmark’s mit Heimspielgefühl

Zwei der Karies-Stoiker

Zwei der Karies-Stoiker

Zum Konzertbeginn ist das Goldmark’s dann gut gefüllt, für meinen Geschmack sogar zu voll. Ich sehe viele Kameras, die mehr von diesem Auftritt einfangen wollen als ein paar Fotos für die eigene Sammlung. Auch auf Seiten der Band hat sich gegenüber dem Mobilat-Auftritt von 2013 einiges getan. Für mich am sichtbarsten an der Person von Gitarrist und Sänger Benjamin Schröter. Aus den schüchternen dünnen Buben von damals sind junge Männer geworden, die inzwischen eine klare Vorstellung davon haben, was sie darstellen worden. Die beiden Gitarristen und der Bassist stehen ganz in Schwarz fast das ganze Konzert in stoischer Ruhe auf der Bühne und konzentrieren sich darauf, ihr 80er-NDW-Postpunk-Gemisch durch das entsprechende Auftreten zu untermalen. Es ist Ende Mai, draußen tobt der frühe Sommer durch die Stuttgarter Innenstadt, aber hier im Club arbeitet eine Band an der Vertonung des Begriffs Nato-Doppelbeschluss. Eigentlich ist alles zum Verzweifeln. Und man scheint das schwarz-weiße Cover der „Seid umschlungen, Millionen“-Platte mit seiner trostlosen 80er-Jahre Hausansicht förmlich zu hören. Aus der Reihe fällt hier nur Schlagzeuger Kevin Kuhn, der hinter seinem Drumkit fleißig Grimassen schneidet oder ostentativ lacht.

Das Publikum macht mit

Das Publikum macht mit

Kevin Kuhn - denkt hier jemand an Wayne's World?

Kevin Kuhn – denkt hier jemand an Wayne’s World?

In den besten Momenten, und das sind die ohne den typischen Sprechgesang, ist das großartig. Schlagzeug und Bass schaffen eine rhythmisch-dynamische Basis, die Spannung aufbaut und aufzulösen weiß. Dabei kann man sogar einzelne Anschläge der Basedrum hören, was ungewöhnlich ist. Darüber liegen die beiden flirrenden Gitarren. Ich bin kein echter Freund der elektronischen Musik jenseits der Chemical Brothers, aber das, was die Band hier an hypnotischen Soundmustern abliefert, muss in etwa das sein, was die Anziehungskraft von Dance-Musik ausmacht.
Apropos Tanzen: Die Band hat es tatsächlich geschafft, sich so etwas wie einen Lokalmatador-Status zu erarbeiten. In Stuttgart auch eher ungewöhnlich. Mir fallen in der jüngeren Vergangenheit keine Bands ein, die hier wirklich gemocht wurden. An diesem Abend spürt man von Anfang an, dass die Leute Bock auf den Auftritt haben. Gegen Konzertende bewegen sich 60 bis 70 Prozent des Publikums in irgendeiner Form zur Musik. Das ist an diesem Abend auch der eine oder andere Stagediver.

Benjamin von Karies beim Stagediven

Benjamin von Karies beim Stagediven

Sänger findet Anschluss an das Publikum

Sänger findet Anschluss an das Publikum

Ich weiß, dass das mittlerweile zu fast jeder Musik gemacht wird. Wenn das aber außerhalb eines Hardcore- oder Metallkonzerts passiert, bin ich immer noch irritiert. Vor allem wenn die betreffende Person sich über den Köpfen der Leute in Zuckungen ergeht. Vor diesem Abend so noch nicht gesehen. Benjamin von Karies lässt es sich auch nicht nehmen, zum Finale auf diese Weise den Kontakt zum Publikum zu suchen. Die Gitarre hat er zu diesem Zeitpunkt abgelegt und konzentriert sich auf den Gesang. Hier wirkt er nahbarer, gelöster und die kalte Bandhaltung wird gebrochen. Auch der Karies-Tunnel scheint einen Ausgang zu besitzen.

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