Descendents / Kill Her First/ Make War, SO36 2. August 2022
Die Poppunk-Legende Descendents tritt im noch legendäreren Berliner Untergrundschuppen auf und trotz überschwänglich gefeiertem Konzert, muss ich Landei an diesem Abend an den Musikantenstadel denken.
„Everything sux“ dröhnt es aus den Boxen und sofort explodiert das SO36. Vor der Bühne bildet sich auf der Stelle ein Mob aus tanzenden Leibern und Stagediver prasseln fast im Sekundentakt von der Bühne. Mit Legende spielt an legendärem Ort ist das Konzert vermutlich mit den richtigen Worten beschrieben. Die vier älteren Herren haben offensichtlich viel Spaß an dem Auftritt. Insbesondere Bill Stevenson trägt – so weit ich das gesehen habe – ein permanentes Dauergrinsen zur Schau. Wenn man Black Flag durchgestanden hat, ist alles andere vermutlich ein Klacks.
Den ganzen Tag war es in Berlin sehr warm und im Club ist es auch ohne tanzendes Publikum schon so heiß, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass es im Winter ohne Putins Gas eventuell zu dem einen oder anderen kleinen Heizproblemchen kommen könnte. In der zweiten Reihe stehe ich rechts am Bühnenrand und obwohl ich nur fotografiere und das Konzert sowie das Publikum beobachte, läuft mir der Schweiß in Strömen runter.
Man sieht vielen Leuten an, dass sie sich extrem über diesen Abend freuen – das ist ihre Band. Sie singen die Texte mit, erkennen Lieder an den Intros und dazu der permanente Pulk vor der Bühne und Stagediver, Stagediver, Stagediver. Viele Szeneveteranen sind dabei, es sind aber auch jüngere Personen – also unter 30, vielleicht sogar unter 20, im Publikum auszumachen. Für eine Person vom Lande wie mich dazu überraschend viele jüngere Frauen unter den Leuten , die von der Bühne springen.
Dabei fallen mir zwei besonders auf. Die trägt eine Descendents T-Shirt und bleibt immer extra lange auf der Bühne, winkt der Band zu, dreht noch eine Runde und lacht dabei über das ganze Gesicht. Da muss die Sicherheitsfachkraft vom rechten Bühnenrand nach vorne kommen und mit einem leichten Schubser den Abgang anstoßen. Die andere ist asiatischer Herkunft und springt irgendwann mir nur noch einem Schuh. Mehrmals.
Ganz fies finde ich die Art wie ein junger Man springt. Geduckt läuft er über die Bühne und rollte sich flach über die Minitorboxen. Was auf sie zukommt, sehen die Leute vor der Bühne nur einen Augenblick zuvor. Das resultiert dann in dem einen oder anderen unsanften Aufprall auf dem Bühnenboden. da sich kaum eine überraschte Hand zum Auffangen hebt. Die Springtechnik wird aber trotzdem konsequent mehrfach durchgezogen.
Die Band knallt die Hits raus, wie „I’m the one“, „I don´t want to grow up“. Ich nehme an es sind die Hits, denn im Gegensatz zu vielen anderen Konzertgängern, habe ich es geschafft, bis zu diesem Abend die Descendents musikalisch zu umschiffen. Ich nenne keinen einzigen Tonträger mein eigen und kann höchstens eine Hand voll Lieder aufzählen. Das kommt nicht daher, dass ich die Musik nicht mag, sondern, dass ich mich aus nicht wirklich erklärbaren Gründen damit beschäftigt habe. Das Auftritt finde ich trotz dieser Wissenslücke enorm gut.
Corona ist praktisch kein Thema. Außer mir tragen eine Handvoll Besucher und der Gitarrist der Descendents Maske. Aber nachdem in Berlin im öffentlichen Nahverkehr etwa ein Fünftel die Maskenpflicht mit OP-Masken – mehr oder weniger extrem lässig getragen unterhalb der Nase, dezent um den Hals gewickelt, damit man sich keinen Zug holt oder eben gleich komplett durch Weglassen – Genüge tut, ist das nicht sonderlich verwunderlich.
Bevor die Descendents das SO36 durchpusten, geschahen andere Dinge. So verkaufe ich vor dem Konzert noch zwei überzählige Karten. Nach der Nummer mit den verschenkten Ärzte-Karten in Heilbronn, bin ich unsicher. Etwa 15 Sekunden nachdem ich die Karten aus der Hosentasche ziehe und unauffällig damit herumwedle, spricht mich eine junge Frau an. Zum Einkaufspreis erstehen einige Ukrainer die Karten. Sie sind am Voabend mit ihrer Band Bezlad im SO36 aufgetreten und nutzen den freien Tag vor dem Konzert in Hamburg um sich die Descendents reinzuziehen. In ihrem Tourkalender sind übrigens noch Termine frei.
Die erste Band des Abends ist Kill Her First aus Berlin. Der Fünfer tritt mit zwei Sängerinnen auf und spielt einen metallisch angehauchten Hardcore ohne Soli. Neben recht straightem Gesang auch die eine oder andere Schreiattacke der Sängerinnen. Das ist nicht neu oder umwerfend aber auch in Zusammenhang mit dem wenigen Ansagen sympathisch und live ok. Sie freuen sich offensichtlich über die Chance mit einer bekannten Band aufzutreten und bedanken sich, dass der Laden auch bei ihrem Auftritt schon gut gefüllt ist. Kleine Fanbase haben Sie auch dabei.
Die zweite Band sind Make War aus New York, wobei sie anscheinend ursprünglich aus Kolumbien kommen. Die Schnauzbärte des Gitarristen und Bassisten, die sich die Gesangsparts teilen, stimmen mich schon skeptisch. Die Musik ist dann irgndwie angepunkter Rock. Es gibt im Publikum Leute, denen das gefällt und vor der Bühne bildet sich ein Kreis mit Tanzenden. Die Ansagen zwischen den Songs sind für mich pure Rockanbiederei: „Wir warten so sehnsüchtig auf den Auftritt der Descendents wie ihr“, „Are you ok?“ „Wollt ihr Wasser?“. Dann rockten Gitarrist und Sänger Rücken an Rücken. Zudem springt auf und vor der Bühne ein junger Mann herum, der alles mit einer Videokamera aufnimmt.
Pluspunkte gibt es für die Konzertunterbrechung während des Disputs im Publikum vor der Bühne. Als aber die Konzertbesucher noch zum MITKLATSCHEN animiert werden, ist die Stadionrockisierung beziehungsweise Musikantenstadelisierung für diesen Abend auf die Spitze getrieben. Es fehlt nur noch der Hias. Meine liebe Annabell – jetzt weißt du, wie ich eine Kritik schreibe.
Was Milo mit Everything sucks vielleicht meint, verstehe ich bei der Heimfahrt. Ich hatte vorher nicht nachgesehen wie lange U- und S-Bahn fahren und bin mir gar nicht sicher, ob ich es bis ans andere Ende der Stadt schaffe. War vor einer Ewigkeit einfacher, als ich eine Zeit lang ums Eck in der Adalbert-Straße gewohnt hatte und heim schlurfen konnte. Vom Kottbusser Tor bringt mich die U-Bahn im Nu an den Alex und nach wenigen Minuten kommt auch die S-Bahn Richtung Charlottenburg.
In der Bahn wird meine Haltestelle dann angesagt, kurz darauf geht aber das Licht aus und die Anzeigetafel wird Schwarz. Wir rauschen ohne Halt an der Messe und Haltestelle Heerstraße vorbei bis zum Olympiastadion. Von der netten Fahrerin erfahre ich, dass diese Haltestellen nachts nicht angefahren werden: „Wussten Sie das nicht?“ Sieht man mir eigentlich nicht an, dass ich vom Land komme? Bahn fährt keine mehr zurück, ich soll zum Bus. Der kommt zwanzig Minuten später und dann heißt es noch mal Laufen. Die Rückreisezeit hat sich im Vergleich zur Anreisezeit verdoppelt und statt kurz nach Eins ist es dann nach Zwei bis ich ins Bett falle. Everything sucks.