Harald Riegg, Emma 23 27. April 2023
Hängen bleibt von dieser Lesung ein italienischer Schlag in die Magengrube. Max Goldts Sprachwitz kann viel retten, aber nicht alle dunklen Gedanken vertreiben. Memo an mich: Beschwere dich nie wieder über zu viele Amerikaner, denn es wird in diesem Fall leider auf dich gehört.
Wir starten mit dem Monolog der Hauptfigur von Renton aus Irvine Welsh Trainspotting. Der Film war für mich, als er in den frühen 90ern herauskam, unglaublich wichtig. Aber wir hatten damals fast nichts, zumindest kein richtiges Internet. Zurück zur Lesung: Der Monolog ist eine Abrechnung mit den falschen Versprechungen der Konsum- und Leistungsgesellschaft. Und endet mit der Frage: „Wer braucht Gründe, wenn er Heroin hat?“ Super Einstieg für den Abend, obwohl ich Heroin seit ich „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ gehen habe, verabscheue und mich auch eine Spritzenphobie plagt. Dazu dann der Kommilitone in Sheffield, der Heroin geraucht hat. „Chasing the Dragon“ hieß das – das Resultat war als Beobachter eher abtörnend. Aber ich schweife ab.
Weiter geht es mit Andrej Longos „Zehn“, in der der Autor die zehn Gebote in einzelnen Geschichten verarbeitet. Wir hören „Begehre nicht des anderen Hab und Gut“. Eine Trio Kleinkrimineller stromert durch Neapel, macht Frauen in der Bahn an. Als sie in einen Club wollen, werden sei abgewiesen – nur geladene Gäste. Ein Gast lässt sie rein, wenn sie dafür einem Nebenbuhler Angst machen. Sie bedrohen den Nebenbuhler auf der Toilette mit einem Messer und schlagen ihn zusammen. Zwischendurch werden Pillen eingeworfen. Auf der Straße setzt der Kick ein und im Rausch stehlen sie einen Ferrari. Der Besitzer sagt noch, bevor er verprügelt wird: „Du machst einen Fehler“. Doch die Band braust davon, 60 kmh, 80 kmh – Michael Schuhmacher ist ein Witz dagegen – der Kollege warnt, doch es wird weiter beschleunigt bis auf 140 kmh und der Wagen überschlägt sich. Sie wachen in einem Keller mit dem Ferrari-Besitzer wieder auf. Er ist eine bekannter Mafiosi. Um frei zu kommen, soll der Erzähler seinen Freud erschiessen. Die Gedanken und Gefühle, die der Hauptfigur durch den Kopf gehen, während sie versucht die Waffe auf den Freund zu richten, der nur noch seinen Namen wimmert, sind so eindringlich beschrieben, dass man mitleidet. Die Geschichte endet, bevor man erfährt, was passiert. das Publikum, wir alle, sind paralysiert.
Nach diesem Schlag in die Magengrube wird es etwas leichter verdaulich. Wir hören eine von Haralds eigenen Geschichten: „Das Bild auf dem Kaminsims“. Der Erzähler beschreibt darin eine alte Fotografie in der neben vielen alten Männer eine Frau im Cowboy-Outfit abgebildet ist. Nachdem die Fotografie in allen Einzelheiten beschrieben ist, wundert er sich, ob sie das Bild oder jemand im Bild bewegt hat.
Nach der Pause geht es weiter mit der russischstämmigen Alina Wronski und „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche.“ darin beschreibt sie wie sie sich in der sowjetischen Provinz in den gut aussehenden Freund ihres Bruders verliebt und ihn heiratet. Er ist tatarischer Abstammung und sie bekommen schließlich eine Tochter. Die ist klein und schwach und ist von Montag bis Freitang in einer Ganztagskinderstätte mit Übernachtung. Lediglich die Urlaube auf dem Land bei der tatarischen Verwandtschaft und die dort genossene Ziegenmilch retten das Mädchen. Zwar erbricht die Tochter die oft hinter die Himberrecke, aber die Mutter sorgt dafür, dass anschließend eine weitere Tasse getrunken wird. Sie selbst verschmäht die Ziegenmilch.
Relativ kurz nach Beginn der Geschichte wird erwähnt, dass der Bruder der Erzählerin drei Jahre später Selbstmord begeht. So viel zu Haralds „nach der Pause geht es optimistischer weiter“. Iich plädiere inzwischen für einen Mindestanteil an nordamerikanischer Literatur. Denn selbst im dreckigsten Bukowski steckt der Gedanke, dass es in der Suffscheisse weiter geht. Der Anteil der amerikanischen Literatur wird von Harald aufgrund diese Blogs nämlich reduziert und deshalb bin ich selbst Schuld, dass ich mich und die anderen Zuhörer mit osteuropäischen Nihilismus auseinandersetzen muss.
Anschließend wird es tatsächlich lustig und unterhaltsam. Max Goldts „Die Rotblaue Luftmatratze“, einst im Sommer für die Süddeutsche Zeitung geschrieben, ist ein Bewusstseinstrom über übertriebene Körperpflege, sieben Arten Putenfleisch und viel Sprachwitz. Einfach reinziehen wenn man schlechte Laune hat oder aus Versehen Andrej Longo in die Finger bekommen hat oder von Harald Riegg mit übertrieben optimistischen Erwartungen in die zweite Halbzeit gelockt wurde und deshalb auf der Balkonkante steht.