Alte Sau / Rottler, Goldmark’s 20. Mai 2023
Jens Rachut mit seinen unzähligen Bands hat ein ganzes Punksubgenre geprägt. Mit der Gruppe Alte Sau widmet er sich dem Orgelpunk und überzeugt. Die Vorband Rottler aus Stuttgart paart gekonnt Heavyness mit Texttiefe.
Es ist Mai und ich war 2023 noch auf keinem Konzert in Stuttgart. Bei der Einfahrt bin ich überrascht, an wie vielen Ecken die Stadt aufgerissen ist. Der Bahnhof grüsst als dachloses Skelett. Eine wirklich lange Einleitung, um zu erklären, dass ich zu spät komme. Rottler aus Stuttgart stehen schon auf der Bühne. Publikum ist überraschend überschaubar – gehe ich doch davon aus, dass eine Jens- Rachut-Combo immer viele Leute zieht.
Rottler entpuppt sich als Bastard aus Heavy-Noise-Punk-Musik und sehr akzentuiertem deutschen Gesang, der in seiner Ernsthaftigkeit und Bedeutungstiefe an die Hamburger Schule erinnert. Keine leichte und zugängliche Kost. Dazu sieht Sänger Christian Rottler aus wie ein Dandy. Die erste EP Jod & Tenside ist noch unter dem Band-Namen Leni Riefenstahl erschienen. Die neue LP „Disziplin & Zigaretten“ harrt noch der Veröffentlichung.
Das Publikum nimmt den Auftritt wohlwollend auf. Abgesehen von einer emsigen Tänzerin, will sich kaum jemand bewegen. Ich bin gespannt, wie sich das Bandprojekt weiter entwickelt. Die Fotos, die ich mache sind übrigens größtenteils unscharf. Ich schiebe das mal auf das gelblastige Lichtdesign an diesem Abend, vielleicht bin ich auch zu doof. Zwischendurch ist der Akku leer und ich suche vor dem Hauptact Alte Sau eine Steckdose zum Laden.
Ich erkläre jetzt nicht groß die Karriere des Hamburgers Jens Rachut von Angeschissen, Dackelblut, Blumen am Arsch der Hölle über Kommando Sonne-nmilch zu Oma Hans und Maulgruppe. Der Mann ist ein Gesamtkunstwerk. Heraus stechen bei allen Bands sein Nichtgesang gepaart mit intelligenten Texten. Vielleicht das Punkgegenstück zu Udo Lindenberg. Alte Sau ist nun ein Projekt, dass Jens seit 2013 betreibt und bei dem keine Gitarre gespielt wird. Getragen wird die Musik des Quartets hauptsächlich vom Keyboardsound von Rebecca Oehms. Die klingt tatsächlich oft nach warmer elektronischer Orgel aus den 70ern, gelegentlich entlockt sie ihr aber auch dissonante Töne. Daneben steuert sie harmonischen Gesang als Kontrapunkt zum meist gereizten Tonfall von Rachuts Sprechgesang bei.
Interessant, das Jens Rachut immer wieder einen Stuhl hochhält und von der Sitzfläche offenbar die Texte zu Songs abliest. Alleine für dieses Szene ist es schon Wert, den Weg von Heilbronn nach Stuttgart auf sich zu nehmen. Zwei jungen Frauen im Publikum verbietet Jens Rachut direkt, ihnn während des Auftritts mit dem Smartphone zu filmen. Sie wollten auch nicht dass er sie filme und überhaupt sei das zu anstrengend. Seltsamerweise halten sich die Frauen daran. Ich versuche den Auftritt heimlich zu filmen, allerdings fällt auch hier mein Akku aus. Gegen mein Fotografieren scheint Jens Rachut nichts zu haben.
Bei den Zugaben bleibt Jens Rachut zunächst am rechten Bühnenrand hinter einem Vorhang sitzen. Das Mikro übernimmt eine junge Frau, die als weibliches Pendant zur Musik einen Rant loslässt, der im Refrain in einem harmonischen Chorgesang mit Rebecca Ohems aufgelöst wird. Ich habe das Gefühl, sie könnte die Tochter eines Bandmitglieds sein. Beim Publikum kommt der gesamte Auftritt gut an. Es ist keine überschäumende Freude, sondern ein entspanntes gemeinsames Feiern mit vielen Frauen in den vorderen Reihen und passt hervorragend zur Musik.
Ich wurde heute darauf aufmerksam gemacht, dass ich 2023 schon in Stuttgart war: Bei Familie Hesselbach am 06. Mai. Erstaunlich, wie schnell ich so was verdränge. Vielleicht liegt es daran, dass es mein erster Besuch im Merlin war und mich die ungewohnte Parkplatzsuche stresste – oder ich bin einfach alt.
ScharpingPershing